Der Weg zum Klo

von Patrick Süskind

Jonathan war gerade aufgestanden. Er hatte Pantoffeln und Bademantel angezogen, um wie jeden Morgen vor dem Rasieren das Etagenklo aufzusuchen. Ehe er die Türe öffnete, legte er das Ohr an die Türfüllung und lauschte, ob niemand auf dem Gang sei. Er liebte es nicht, Mitbewohnern zu begegnen, schon gar nicht morgens in Pyjama und Bademantel, und am allerwenigsten auf dem Weg zum Klo. Die Toilette besetzt vorzufinden wäre ihm unangenehm genug gewesen; geradezu peinigend gräßlich aber war ihm die Vorstellung, vor der Toilette mit einem anderen Mieter zusammenzutreffen. Ein einziges Mal war ihm das passiert, im Sommer 1959, vor fünfundzwanzig Jahren, und ihn schauderte, wenn er daran zurückdachte: Dies gleichzeitige Erschrecken vor dem Anblick des anderen, der gleichzeitige Verlust von Anonymität bei einem Vorhaben, das durchaus Anonymität erheischte, das gleichzeitige Zurückweichen und wieder Vorangehen, die gleichzeitig hervorgehaspelten Höflichkeiten, bitte nach Ihnen, o nein, nach Ihnen, Monsieur, ich habe es durchaus nicht eilig, nein, Sie zuerst, ich bestehe darauf – und das alles im Pyjama! Nein, er wollte es nie wieder erleben, und er hatte es auch nie wieder erlebt, dank seinem prophylaktischen Lauschen. Lauschend sah er durch die Türe auf den Gang hinaus. Er kannte jedes Geräusch auf dem Stockwerk. Er konnte jedes Knacken, jedes Klicken, jedes leise Plätschern oder Rauschen, ja sogar die Stille deuten. Und er wußte – jetzt, da er nur ein paar Sekunden lang das Ohr an die Tür gelegt hatte – ganz sicher, daß kein Mensch auf dem Gang war, daß die Toilette frei war, daß alles noch schlief. Mit der Linken drehte er den Knopf des Sicherheitsschlosses, mit der Rechten den Knauf des Schnappschlosses, der Riegel wich zurück, er zog mit einem leichten Ruck, und die Tür schwang auf.

Fast hätte er den Fuß schon über die Schwelle gesetzt gehabt, er hatte den Fuß schon gehoben, den linken, sein Bein war schon im Schritt begriffen – als er sie sah. Sie saß vor seiner Tür, keine zwanzig Zentimeter von der Schwelle entfernt, im blassen Widerschein des Morgenlichts, das durch das Fenster kam. Sie hockte mit roten, kralligen Füßen auf den ochsenblutroten Fliesen des Ganges, in bleigrauem, glattem Gefieder: die Taube.

(Aus: Die Taube. Diogenes, 1987)

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