Isch geh mit U-Bahn

von Philipp Möller

Der offentliche Nahverkehr in Berlin ist immer eine Reise wert. Mit ein bisschen Glück kann man bei einer Fahrt mit den Verkehrsmitteln der Hauptstadt filmreife Szenen erleben. Als ich die U-Bahn betrete, bin ich mit meinen Gedanken jedoch bereits woanders – und zwar in der Schule. Denn heute trete ich meinen neuen Job als Grundschullehrer an.

Zwischen Musikanten, Verkäufern ven Straßenmagazinen und Fahrgästen verschiedensten Umfangs, Alters und Milieus suche ich mir einen Sitzplatz und blicke erst wieder auf, als der Hauptdersteller der nächsten Szene die Leinwand betritt – selbstverständlich mit einem Handy am Ohr.

„Hamoudi, was los? Was machst du?“, ruft er beim Betreten des Waggons lauthals in sein Mobiltelefon. Als er eine aufgebrezelte Blondine entdeckt, glotzt er ihr unverschämt ins Dekolleté und zwinkert ihr dann grinsend zu. Ihr demonstratives Desinteresse kommentiert er mit einem sehr unfeinen Wort und nimmt dann mir gegenüber Platz.

Na prima, denke ich, wieder einmal werde ich unfreiwilliger Zuschauer der endlosen Daily Soap Willkommen auf dem Planeten Hartz IV. Drehbuch und Regie: das Leben. Produzenten: die politische Sabotage an der deutschen Bildung, die noch immer andeuernde Abwesenhait einer funktionierenden Integrationspolitik und der stetige Abbau unseres Sozialsystems.

Während der Protagonist in voller Lautstärke mit seinem Kumpel quatscht, beobachte ich ihn unauffällig. Auf seinem mit reichlich Haarwachs eingefetteten, glänzenden Haupthaar sitzt ein viel zu eng geschnalltes Basecap, am rechten Handgelenk blitzt eine überdimensionale Proleten-Uhr hervor, und auch die schneeweißen Markenturnschuhe sind für jedermann sichtbar. Eine wenig dezente Goldkette und das passende Armband komplettieren sein Outfit – man muss schließlich zeigen, was man hat!

Das gilt offensichtlich auch für seine Kronjuwelen. Die richtige Körperhaltung ist deshalb von großer Bedeutung für seine Rolle. Um rivalisierenden Männchen und paarungsbereiten Weibchen die eigenen Vorzüge zu präsentieren, spreizt er die Beine beim Sitzen weit auseinander. Den Ellenbogen des Telefonarms stützt er auf dem Oberschenkel ab, mit der freien Hand untermalt unser Held die Konversation mit entschlossen wirkenden Gesten.

„Ja, mann“, ruft er ins Handy und fuchtelt mir der linken Hand in der Luft herum. „Hau ma rein! Sch’ruf sie an jetzt …“

Er legt auf, dann bemerkt er meinen Blick.

„Was guckst du?“, pöbelt er mich an, doch ich schaue schnell weg. Er lässt seine Kieferknochen bedrohlich mahlen, dann widmet er sich wieder seinen eigenen Angelegenheiten.

Weil seine Oberarme wahrscheinlich zu muskulös sind, um das Handy für längere Zeit ans Ohr zu halten, und die Benutzung von Headsets vermutlich als schwul gilt, entscheidet er sich, das folgende Telefonat über den Lautsprecher zu führen. So kommt es also dazu, dass ich und das gesamte Zugabteil den Dialog zwischen Mr. Was-guckst-du und der Frau, die er vorübergehend zu seinem Eigentum erklärt hat, in vikker Länge mitverfolgen dürfen. Ein solches Glück wird einem nicht so oft zuteil.

„S’los?“, begrüßt sie ihn liebevoll, woraufhin er unvermittelt ins Gespräch einsteigt.

„S’machst du?“

Während die männlichen Vertreter seiner Stilrichtung mindestens eine Silbe ihrer kurzen Satzfragmente stark überbetonen, signalisieren die weiblichen durch Einsilbigkeit und Monotonie deren Desinteresse.

„Sch’bin Solarion“, antwortet sie brav.

„Mit wem bist du?“

„Alleine.“

„Warum gehst du?“

„Vallah, sch’seh aus wie Kartoffel, ieberhässlich!“

Das scheint ihm zu gefallen. Lächelnd schiebt er den Inhalt seiner Unterhose zurecht.

„S’machst du später?“, will er dann wissen.

„Sch’geh Disco.“

„Was?!“

Diese Nachricht lässt seinen Adrenalinspiegel sichtbar nach oben schnellen. Wie kann sie die Frechheit besitzen, ihn davon erst jetzt in Kenntnis zu setzen?

„Mit wem gehst du?“, fragt er sie eindringlich.

„Züsch, sch’geh nur mit Mehtschin!“

„Seit wann weißt du, dass du gehst?“

Diese Frage scheint sie grammatikalisch zu überfordern, sie gerät ins Schleudern.

„Dings, so halt“, antwortet sie nach einem Moment der Stille.

„Was ziehst du an, wenn du gehst?“

Es rauscht und klickt, die Verbindung ist beendet. Aufgeregt verliert der Held die Nerven und brüllt sein Handy an.

„Hallo? Hallo? Schon wieder keine Netz, vallah, irgendwann isch ficke diesem E-Plus!“

Dann flucht er laut, springt auf und drängelt sich zur Tür. Als der Zug quietschend zum Halten kommt, tritt er auf den Bahnsteig und bleibt erst dort einmal stehen, sodass sich alle anderen Fahrgäste umständlich an ihm vorbeischieben müssen. Mit den Händen in den Hosentäschen sieht er sich auf dem Bahnhof um. Die Bewegungen seiner Maulmuskeln demonstrieren Stärke und Entschlossenheit. Die Luft scheint rein, also setzt er sich in Bewegung und verlässt die Bühne.

Was für ein Auftritt.

Ja – das ist Berlin! Wer sich davon überzeugen möchte, dem seien der Erwerb einer Tageskarte und eine ausgedehnte Tour durch den westlichen Teil des Tarifbereichs B empfohlen. Der Besucher wird schnell feststellen, dass derlei Auftritte nicht nur denjenigen vorbehalten sind, denen Rechtspopulisten gern den Migrantenstempel aufdrücken, nein: Sie sind überall dort ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft, wo die gefährliche Mischung aus Bildungsarmut und Perspektivlosigkeit für Frustration, Rücksichtslosigkeit und Gewaltbereitschaft sorgen. Die Schule, an der ich heute meinen neuen Job als Lehrer antrete, liegt in einer der größten Metropolen der geheimnisvollen Planeten Hartz IV – in einem der zahlreichen Berliener Kieze, die von dieser gefährlichen Mixtur betroffen sind.

Als ich die Bahn wenige Stationen später verlasse, beschleicht mich das Gefühl, die Geschichte mit Hamoudi und der Frau in Solarion könnte erst der Anfang gewesen sein. Noch habe ich nicht die leiseste Ahnung davon, wie es sein wird, Kinder zu unterrichten, deren Schicksale ich bisher hauptsächlich aus dem Fernsehen kenne. Von den vernichtenden Urteilen verschiedener Studien über deutsche Bildungseinrichtungen habe ich zwar gelesen, doch nun stehe ich kurz davor, die Gesichter hinten diesen trockenen Fakten live und in Farbe kennenzulernen.

Um halb neun verlasse ich den U-Bahnhof und trete ins grelle Tageslicht. Bühne frei, es ist so weit: Ich bin Lehrer!

Oder wie die Kids sagen würden: Isch geh Schulhof.

 

Aus: Isch geh Schulhof. Bastei-Lübbe, 2012

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