Auf dem Balkon

Ich schaue mich um...

Ich stand auf dem Balkon und ließ meinen Blick weit über die mir gegenüberliegenden Häuser zum großen Wahrzeichen des Ostberlins fliegen. Im schillernden Licht ragte der Fernsehturm durch die dunkle Nacht auf. Mein Blick beruhte momentan darauf und kehrte dann zu mir zurück, in den großen, finsteren Hof fallend, wo ich nur unklare Gestalten erkennen konnte. Ich starrte noch in diese sich mit dem aussterbenden Tageslicht umwandelde Leere, als die Glocke der Zionskirche zu tönen anfing. Sie war nicht zu sehen, auch der Glockenturm war vom Dach der Wohnung verborgen, aber sie machte ihre Präsenz auf dem Platz klar und schrie die Uhrzeit aus. Ich lehnte mich gegen das Geländer und meine Ohren genossen die sanften, traurigen Töne der Glocke, während ich einen Zug an meiner Zigarette machte…

Im grellen Licht der Scheinwerfer lag das Tier. Vom Auto auf den Bürgersteig geschoben, flimmerten die hinteren Beine der Rehgeiß über dem Asphalt. Ein Mann stieg aus dem großen Auto aus und stand hilflos, verständnislos da, dem sterbenden Tier zuschauend. Mitleidig aber doch auch nicht blieb er neben seinem Wagen einfach stehen. Die Brust des Rehs hob sich gewaltig und sank wieder, um Atem kämpfend, und das sichtbare, nach oben gerichtete Auge drehte sich verzweifelt in dessen Höhle um. Das Feuer des Lebens mischte sich mit dem Wahnsinn des Todes und fand in einem Sturm der Funken eine letzte Heftigkeit.

…Den Rauch blies ich aus meinem Mund aus und ich guckte, wie er himmelwärts durch die Luft herumwirbelte. Ich zog wieder an meiner Zigarette und schnipste sie danach vom Balkon weg, denn sie war fast zum Filter abgebrannt. Die Kippe taumelte schnell zum Boden des Hofes aber schien mir nur flau hinunter zu schweben, den ganzen Weg ihr glühendes, rotes Licht zurückwerfend. Der feurige Punkt der Asche wurde kleiner und kleiner, ein heller Flieger durch die Finsternis – bis sich die glimmende Asche jäh zu bewegen aufhörte, sie hat den Boden getroffen und ruhte dort auf den Pflastersteinen…

Die Zunge der Rehgeiß hing bewegungslos aus dem Mund, als das Tier sich wieder zu erheben versuchte. Man konnte die Halsmuskeln schwach spannen sehen und der Kopf zerrte, bebte, aber hob sich nicht. Der auch unbewegliche, gleichgültige Autofahrer sah an und ein dünner, im Scheinwerferlicht fünkelnder Strom rann dunkelrot aus einer Nüster des Tieres. Ein Tropfen fiel zu Boden, dann noch einer, sie sickerten zur Rinne im Bürgersteig. Die glasigen Augen brannten aber mit dem Beharren auf Weiterleben und der Blick wanderte erwartungsvoll, hoffnungslos umher, immer langsamer aber Intensität strahlend. Plötzlich erstarrte dieser Blick und sank in Furcht und tristes Nichtbegreifen, während sich der Todeskampf zu seinem unvermeidbaren Ende brachte. Der Körper der Rehgeiß zuckte einmal heftig, sich in den Tod bewegend, und lag still. Gefühllos wandte sich der Fahrer von dieser Szene und stieg wieder ins Auto ein.

…So guckte ich an, während die Glutspitze der Zigarette, der kaum bemerkbare, rot glühende Punkt am Boden vier Stockwerke unter mir, erlöschte.

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