Der Zug

Erlebte Geschichten

Seit meiner Ankunft in Berlin waren schon fünf Monate vergangen. Die erste Woche hatte ich in Neukölln in einer auf Airbnb angebotenen Wohnung verbracht; während dieser Woche hatte ich die Ansicht riesiger Gebäude, winziger Buden und der dazwischen kommenden und gehenden Leute verschiedener Herkunft genossen. Danach hatte ich einen Monat bei einem deutschen Ehepaar verbracht; es war neben der Spree, umgeben vom Tiergarten. Als letztes war ich in den Prenzlauer Berg gezogen, wo ich erwartete, den Rest meines Aufenthaltes zu verbringen; ein vornehmer Kiez, dieser Prenzlauer Berg, voller junger Familien, junger Leute, neuer Geschäfte und in Bars umgewandelter Fabrikgebäude… kurz, voller Jugendlichkeit! Da wohnte ich jetzt, und hatte mir noch kein Handy besorgt.

Außer ein paar Abenteuren hatte mir meine »Handylosigkeit« noch keine richtigen Sorgen vorbereitet. Berlin ist eigentlich eine Stadt, in der man ohne Handy gut durchkommen kann: in jedem Viertel sind Parks, Restaurants, Bars und große und kleine Läden versammelt. Es gibt sogar Buchhandlungen! Die sind überall verstreut, in jeder Straße, in jeder Gasse. Jedes Viertel hat mehrere davon, denn Berlin pflegt noch sein Verhältnis mit Papier, dem auf Papier geschriebenen Wort. Trotz alledem hatte ich oft den Eindruck, der einzige ohne Handy zu sein. Sowohl im Zug, als auch in den Bars gab es viele durch ihre neuartigen Handys gefesslten Menschen und sogar bei denen, die ohne Handy dastanden, konnte man die Gegenwart des kleinen Gerätes in der Hosentasche erahnen.

Es geschah nun einmal im Zug, als ich auf dem Weg zu meiner Lieblingsbuchhandlung war, dass einem jungen, eigenartig bekleideten Mann, mit langen rosafarbigen Haaren, das Handy aus der Hand ausrutschte und vor meinen Füßen landete. Bevor ich Zeit hatte, das Handy ihm zu reichen, waren wir, voll Eifer, schon in einem Gespräch verwickelt. Er ging arbeiten. Er war ein Künstler. Eine Station vor der Buchhandlung stieg er aus: Ich verfolgte ihn mit den Augen, wie er sich einen Weg durch die vielen Fahrgäste, mit denen der Zug vollgestopft war, bahnte, und rechtzeitig aus dem Zug hinaussprang. Ein paar Minuten später hielt der Zug am folgenden Bahnhof, dem meinen, an. Ich stand auf, und da plumpste etwas von mir auf den Boden herab: sein Handy!

Ich hob es auf. Der Zugang war verschlüsselt. Mir waren keine der auf dem Handy gespeicherten Nummern verfügbar. Es ergab keinen Sinn zurückzufahren, schon waren fünfzehn Minuten vergangen, seitdem wir voneinander Abschied genommen hatten.
Damit wurde der Rest meines Tages vergiftet: Was ist, wenn er einen dringenden Anruf bekommen sollte; oder noch schlimmer, was ist, wenn er denkt, dass ich ihn im Zug absichtlich mit dem Gespräch abgelenkte hatte, um sein Handy bei mir zu behalten. Was ist, wenn er mich wegen des Klauens bei der Polizei anzeigen würde?

Das Handy blieb aber still den ganzen Tag. Niemand rief an. Später ging die Akku aus. Am nächsten Morgen hatte ich eine Idee: wenn der Mann gestern auf dem Weg zur Arbeit war, sollte ich ihn gegen dieselbe Zeit auf dem Bahnsteig, wo er ausgestiegen war, wiederfinden können. Also veließ ich meine Wohnung ein paar Stunden später, ging die Treppen hinunter, schloss das Tor auf und da sah ich meinen Künstler mit rosafarbigen Haaren auf den gegenüberliegenden Ziegelbau zugehen.

Wir waren Nachbarn!

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