Die Verlockung einer Klotür

Ich schaue mich um...

»Ich muss kurz auf’s Klo« – so fängt diese Geschichte, und jede dieser Art, an. Ich gehe aus dem Raum und folge ungeduldig dem Weg zur Toilette, als ob jemand mich verfolgt. Der Flur ist gerade leer aud Stille herrscht, denn die meisten haben immer noch Unterricht. Ich habe mich aber davon befreit und bin rausgegangen – die Not kann ich nicht mehr bekämpfen und ich muss mich erleichtern, leider in einer dieser schmutzigen Klokabinen bei der Uni. Es ist ja so in jedem öffentlichen WC, aber das macht mir kein besseres Gefühl darüber.

Ich gehe da hinein, achte darauf, dass ich nur durch den Mund atme, und wähle mir eine besser aussehende Kabine aus. Ich trete ein und ziehe das Schloss hinter mir zu. Während ich mir die Hose runterziehe und mich auf’s Klo setze, fallen mir die schöne Kunstwerke auf den Wänden auf. Meine Augen schweifen automatisch, unverzüglich über diese merkwürdig fantasievollen Schönheiten und beruhen gierig darauf.

Da fällt mir etwas ein – aber nein, das soll man lassen. Es gibt, gleich vor mir auf der blauen »Leinwand« der Tür dieser Kabine, eine mir zustrahlende Lücke im Kunstwerk, zwischen Telefonnummern und pfiffigen Weisheiten. Ich blicke sie verlockt – wie verhext – an und merke es nicht, wie meine zitternde Hand in die Hosentasche greift – nach dem Filzstift.

Ein Geräusch in der nebenstehenden Kabine reißt mich aus meinem Traum. Ich überwinde das Gefühl, dass diese Person weiß, was ich tun – die Wände sind doch undurchsichtig – und ziehe die Kappe vom Stift. Meine Gedanken wurden aber schon zerstört und meine Inspiration wurde weggescheucht von den kleinen Tönen, die mein Nachbars Smartphone macht. Ich weiß nicht mehr, was mein Beitrag zum lebendigen Kunstwerk, dem sich umdrehenden Kaleidoskop dieser Tür, sein mochte. Ich lehne mich etwas verlegen auf dem Klo zurück und denke nach. Ich warte übrigens auch auf das Weggehen meines Nachbars – obwohl er mich nicht sehen kann, fühle ich mich erwischt und will bloß wieder meine Ruhe haben. In ungeduldigem, ewigem Kurzem rauscht das benachbarte Klo. Ich höre das Schloss im Halter rütteln und die Tür aufschwingen. Nach dieser scheinbaren Ewigkeit bin ich endlich frei! Ich strecke meine Hand wieder aus und mache den ersten Strich meines Meisterwerks.

Zu den Geräuschen des platschenden Wassers im Waschbecken formt sich meine Zeichnung: ein Auge mit großer Pupille und im Augenweiß verschnörkelnden Kapillaren. Dazu sind noch Wimpern hinzuzufügen – der Nachbar trocknet sich die Hände und geht, ich höre die Tür zuknallen – und es ist fertig. Vielleicht eine einzige Träne oder eine Augenbraue? Nein, man soll ja wissen, wann es genug ist.

Ich stehe auf, spüle, und gehe zum Waschbecken, währenddessen ein komisches, nie erlebtes Gefühl in mir aufschwellt. Stolz? Nein, es war doch nur ein dämliches Gekritzel auf einer Klotür. Ich grübele über dieses angenehme Gefühl nach, als das Wasser über meine Hände läuft. Die stinkende Toilette verlassend, erkenne ich es: den aufgeregten Adrenalinstoß eines Verbrechers, von einem urindurchtränkten Mangel an Sauerstoff angespornt. Ich fange an, vor mich hin zu pfeifen im Flur, der sich mittlerweile wieder aufgelebt hat, und sonne mich in der geheimen Glorie meiner kleinen Dummheit.

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