Glühwein

Erlebte Geschichten

Man hatte mich gewarnt; gewarnt vor der Kälte, dem ewig bedecktem Himmel, dem Schnee, den immer kürzer werdenden Tagen. Ich hatte jene Warnungen zu Herzen genommen und für meine Reise nach Deutschland zwei Koffer voll warmer Kleidung gepackt. Es stimmt, dass in Berlin Ende November die Tage kürzer werden. Aber, ehrlich gesagt, ist das schon ein wohl bekanntes überall im Winter auf der nördlichen Erdhalbkugel auftretendes Phänomen. Stellt euch mal San Francisco vor: Halb fünf und es ist schon pechschwarz und solange ich mich an meine Kindheit im Iran errinern kann, war die lage kaum besser auf der anderen Seite des atlantischen Ozeans: Im Winter musste ich immer vor fünf zu Hause sein.

Ich frage mich wirklich, warum man mich vor „immer kürzer werdenden Tagen“ gewarnt hatte. Übrigens kann man sich dafür nur schlecht vorbereiten! Na, was würde man packen? Individuell gäbe es keine Lösung; Gott sei Dank, die Berliner sind viel sozial geneigter als man denkt. Und die haben schon eine Lösung gefunden: das Nachtleben. Wer hat die zauberhaften Geschichten über die Berliner Bars, und Clubs noch nicht gehört? Aber diese Art Nachtleben meinte ich nicht, obwohl auch sie gewiss einem bei den langen Nächten behilflich sein kann. Was ich meinte, war eine andere weniger bekannte Art Nachtleben. Und das, obwohl sie draußen auf den Straßen Berlins ausgeführt wird. Eine Art Nachtleben, die mit Weinachten eng Verbunden ist und nach Süßigkeiten riecht.

Zunächst versuchte ich sie zu vermeiden.

Schon zwei Monate vor Weihnachten wurden kleine hölzerne Buden an jeder Straßenecke aufgebaut. Wie Pilze nach einer stürmischen Nacht, waren sie plötzlich da. Und mit jedem Tag nahm ihre Anzahl zu. Auf Plätzen und Hauptstraßen kamen sie zusammen, dass es einen Monat vor Weihnachten schon Felder voller Weichnachtsbuden gab. Am 20sten November traf meine Mutter für einen dreiwöchigen Aufenthalt in Berlin ein. Die erste Woche lag sie krank im Bett; sie hat sich im Flugzeug von einem Buben anstecken lassen. Jeden Tag musste ich zur Uni gehen. Ich hatte eigentlich geplant die meisten meiner Vorlesungen zu schwänzen. Aber da meine Mutter wegen ihrer Erkältung die Kälte auf den Straßen nicht aushalten würde, entschied ich mich, mit dem Schwänzen zu warten. Ich weiß nicht genau, was meine Mutter in meiner Abwesendheit getan hat. Aber ich kann mir gut vorstellen, zu Hause alleingelassen lehnte sie sich gemütlich in ihrem Bett zurück und schaute aus dem Fenster heraus, auf das Treiben auf den Straßen Berlins.

Dass sie aus dem Fenster herausgeblickt hat, bin ich ziemlich sicher. Denn das erste, worum sie mich bat, als sie sich erholt hatte, war „eine Runde unter den Weihnachtsbuden“; sie gediehen auf der Straße vor meinem Gebäude. Also ein bisschen schwermütig begleitete ich sie eines Abends zu einem Weihnachtsmarkt. Zuerst wollte sie die Weihnachtsbäume ansehen; danach die Süßigkeiten ausprobieren; ein bisschen später, als es kälter wurde, musste sie unbedingt den Glühwein kosten… dabei hatten wir schon studenlang dort verbracht.

Als ich die Kante meines Pappbechers auf meine Lippen preßte und der Dampf des Glühweins meine Brillengläser bedeckte, bemerkte ich, dass auch ich unsere Zeit auf dem Markt genossen hatte… Und was meine Handylosigkeit angeht, habe ich an dem Abend kaum daran gedacht.

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