Auf der Bühne

Erlebte Geschichten

Ich hätte noch nie geglaubt, so viele Freunde in Berlin machen zu können. Dass ich sie alle auf einmal kennen lernen würde, hätte ich noch weniger geglaubt. Wenn ich jetzt daran denke, sehe ich ein, dass die unter uns verknüpfte Freundschaft anhand der Umstände unvermeidlich gewesen war. Aber damals war es mir, trotzdem, unglaublich vorgekommen. Es geschah im Sprachkurs.
Vor dem Beginn des Semesters an der Humboldt Universität, mussten alle ausländischen Studenten als Vorbereitung des kommenden Semesters Sprachkurse belegen. Also gingen wir alle an einem kühlen, von den Strahlen der aufgehenden Sonne weißgefärbten Morgen zur Uni, wo auf uns eine lange Rede und ein anstrengender Sprachtest erwarteten. In dem großen Saal war alles dunkelblau, sowohl die Vorhänge als auch der Stoff auf den Stühlen. Die meisten Studenten waren Europäer, die durch das europäische Austauschprogramm, Erasmus, nach Berlin gekommen waren. Als ich bald erfahren sollte, nannte man sie: Erasmusstudenten.
An dem ersten Tag des Unterrichts saßen wir in einem Kreis. Um mich herum gab es nur Erasmusstudenten. Insgesamt zehn. Ein paar hatten schon ihre Grammatikbücher mit. Andere beschäftigten sich mit der Wiederholung des Vokabulars aus abgenutzten Heften. Wir wurden gebeten uns vorzustellen:
»Lulu, aus Frankreich; ich studierte Medizin« –
»Marie, aus der Schweiz; ich bin Anwältin, fast, denn ich muss noch nach diesem Semester die Anwaltsprüfung absolvieren« –
»Laura, aus Dänemark; Ich studiere Archäologie« –
Und so ging es weiter… Und alle waren ernst und niemand lächelte; niemand bis auf den Professor: Endlich war er an der Reihe. Er hieß Hans und wünschte uns Willkommen in Berlin. Er habe schon mehrere Jahre mit Ausländern gearbeitet und dabei habe er eine besondere Methode entwickelt, die das Sprachlernen durch das Schauspielen ermögliche und…
Ich sah mich in der Klasse um. Da waren zehn skeptische Gesichter auf Hans gerichtet.
»Also stellt bitte jeden Morgen die Stühle in eine Runde«, fuhr Hans fort, ungestört von den Gesichtern, »Die Grammatikbücher braucht ihr nicht mitzubringen; Grammatik könnt ihr zu Hause machen, wenn ihr wollt. Damit beschäftigen wir uns nicht in der Klasse«.
Auf den zehn Gesichtern waren die Augen größer geworden; Hundert Finger spielten rastlos über die noch offenen Bücher und Hefte, die auf zehn unruhigen Schößen ruhten.
»…Endlich bereitet ihr als Klausur ein Theaterstück vor, das ihr vor den Studenten der anderen Klassen spielen werdet«.
Augenfällig war die Verzweiflung auf den zehn Gesichtern… Eigentlich, elf, denn ich war selber noch verzweifelter als alle anderen. Ich wollte Deutsch lernen…die paar Wochen, die ich bisher in Deutschland verbracht hatte, hatten mir die schmerzlich fiesen Verhältnisse meiner Deutschkenntnisse klargemacht. Wie konnte ich durch Theaterspielen ohne Grammatik oder Aufsätzeschreiben Deutsch lernen; das könnte nur ein Witz sein.
Der erste Tag war zu Ende. Es war kein Witz: Wir hatten zwei Stunden lang in dem Kreis gestanden und verschiedene Gedächtnisspiele gespielt. Ich gebe es zu, es hat mir Spaß gemacht. Und am Ende hatte ich mindestens die Namen meiner Kommilitonen gut gelernt, weil eines der Spiele darin bestand, dass wir die Namen der anderen Studenten immer schneller und schneller wiederholten. Nach dem Unterricht gingen wir raus. Verbunden durch den Schock und die allgemeine Verzweiflung tranken wir Bier, aßen wir Würste und quatchten die ganze Nacht… auf schlechtes Deutsch, aber immerhin Deutsch. Und auf Deutsch würden wir das ganze Jahr weiter sprechen, sogar die Franzosen untereinander.
Ohne es sich merken zu lassen, war an dem Abend eine dauerhafte Freundschaft erblüht.

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