Menschenwesen

Ich schaue mich um...

Tief im Schlaf lag der Typ, das Wesen des Menschen. Man konnte dieses Wesen von Weitem spüren, denn es lag entblößt, für alle da. Die meisten von uns, wir versuchen dieses Wesen zu verstecken, hinter Düften, Pflege, Kleidung, Geld. Dieser armselige Mensch, dieses wahre Wesen hatte kaum ein Stückchen von allen. Auch Leben – oder was wir als gewöhnliches Leben bezeichnen – fehlte ihm. Sein ganzes Hab und Gut lag da, um ihn geschart, eine elende Mischung aus Nutzen und Sentimentalität.
Es konnte kein ruhiger Schlaf sein, verkrampft und unnatürlich gebeugt auf der kleinen Bank am Ende des U-Bahn-Waggons. Es war dem Wesen völlig egal, wohin er jetzt fuhr, nur dass er die Wärme genoss und seine Tiefen entfaltete. Und diese Entfaltung gelang ihm prachtvoll. Sobald die Waggontüre sich öffneten, schwebte der Hauch des Wesens über den Bahnsteig und wickelte die dort stehenden Fahrgäste ein. Im Waggon selbst wurde die Stärke dieses Wesens sogar unerträglich, es überfüllte den engen Raum, ließ kaum einen Atemstoß Luft bleiben. Die Harten, die es noch zu wagen imstande waren, im Waggon zu bleiben, zeigten ihre Unzufriedenheit ausdrücklich. Immerhin saß man aber verschwiegen da, in das Antlitz seiner Wahrheit starrend. Denn man sah doch die Wahrheit darin, sah die Vergeblichkeit des Flüchtens vor dem eigenen Ich.
Eine Schramme, oder vielmehr eine sickernde Wunde, war auf dem nackten Rücken zu sehen. Davon treifte alle paar Sekunden Blut, das dem Schlummern des Wesen eine abgründige Festigkeit verlieh. Das war aber von keiner Bedeutung, niemand schrak davor. Stattdessen war es dieses Angesicht-zu-Angesicht-Sein mit der Realität, das einen schockiert.
Die Türe schlossen sich und der Zug fuhr ohne weiteres fort. Nicht-sehende Wesen, die sich aufspielten und taten, als ob sie nichts Gemeinsames mit dem, mit diesem einsamen, wahren Wesen hatten, traten ein und aus, während der Zug dessen planmäßigen Weg fortsetzte. Jeder bekam im Gesicht die Widerspiegelung seiner Natur, wandte sich eiligst davon und guckte verstimmt aus dem Fenster. Das rasende Nichts brachte mit sich dennoch viel mehr Erkenntnis denn Ruhe und die Blicke schielten auf Arbeit, Bücher, Handys; nach der kleinsten Spur Ablenkung suchend. Ohne Erfolg, allerdings. Denn das Wesen schwoll aus der Wunde, aus der Haut, wie der schrecklichste Alptraum, und zwang sich tief in die Seele. Die Fühler des Wesens waren völlig ausgestreckt, wohingegen dessen körperliches Dasein die Leere umarmte. Das Leib war durchsichtig, der heimliche Blick konnte kaum die Wahrzeichen der Existenz erkennen.
Der Zug, von seinen Fahrgästen geleert, kam langsam in die letzte Station. Nur einer war noch da – der, den niemand aushalten konnte, der das Weiterleben der anderen störte; das enthüllende Wesen, das Menschenwesen selbst. Das schlafende Gefäß dieses Wesens war auch schon hinausgetaumelt, aber die Elend war längst aus diesem gekrochen und bettete sich in die Winkel ein. Fest geworden war die Präsenz dieses Wesens, des Störendsten an allen, das, wovon wir uns abzuhalten versuchen: uns selbst.

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