Absturz

Ich schaue mich um...

Über den Felsen wehte der Wind immer furchtbar. Und da, wo das Land schier ins Meer abfiel, da stand er, nicht mehr als eine Armlänge vom Tod. Der Tod kam dann langsam auf ihn zu und legte einen Arm um seine Schulter. Die beiden waren alte Bekannte und sie hatten schon seit Jahren, hier oben am Felsen, miteinander geredet. »Ich lasse dich nicht sterben«, sagte der Tod, während er sich wie ein Schlafwandler dem Rand des Abgrundes annäherte. »Was wäre das Leben ohne mich?«

Und er spürte keine Angst. Die knochigen Finger des Todes hielten ihn fest, sie drangen in seine Seele ein, während die rhythmischen Wellen hypnotisierend den Felsen leckten und ihren Schaum in die versalzene Luft warfen. Der stechende Druck war ihm beruhigend; er nahm es sogar vor, sich etwas zu bücken, um den steinernen Hang genauer zu betrachten. Scherben dessen rutschten unter seinem Gewicht ab, der Ozean verschlang alles im tiefen Blau. Den Steinstückchen folgend blieb sein erregter Blick in diesem abgründigen Dunkel vergraben, auch wenn sich die Augen in ihren Höhlen herumdrehten. Das Licht der heruntergehenden Sonne strömte in leere Gehäuse, die schon längst nicht mehr bewohnt waren. Sein ganzes, dem Blick angekoppeltes Wesen floh vom sterblichen Körper und tauchte sich ins verlockende, schwebende Blau. Aber wo sich das Wesen der Seele anschloss, spannte sich eine geistliche Kette – die ehernen Finger des Todes verankerten ihn in der Materie seiner Existenz, sie banden ihn mit dem ständig entlaufenden aber stets sich gebärenden Jetzt. »Du gehörst mir, ja, aber ich bin noch nicht für dich bereit. Hab keine Eile – Ewigkeiten und noch mehr haben wir vor uns.Das ist das Billigste, was ich besitze, und ich schenke es allen. Warte nur, warte nur…«

Jedes Wort empfand er im nahezu leeren Leib wie die Trommel einer Spieluhr, die erschütternde Töne hervorstieß. Seine vom Wellenschlag betäubten Ohren hörten nichts, aber die ätzenden Geräusche schwenkten seinen federleichten Körper. Die Trommel drehte sich und wand seine Seele, sein Wesen, seinen Blick langsam um sich, sie aus den konvulsiven Tiefen ziehend. Die Paukenschläge seines Herzens ersetzten mit jeder Drehung die scheinbar unablässige Gewalt des Meeres und in Kurzem war er wieder bei sich. Er hörte noch in den Winkeln seiner Seele, wie sich der Tod mit einem feierlichen Hallo verabschiedete.

Das Gespräch war zu Ende aber er stand immer noch am Felsen. Die Worte des Todes hallten in seinem Kopf wider, als der Wind ihn heftig stieß und er sich ans Land krallen musste – zu spät, die Leichtigkeit hat ihn erwischt und er stand nicht mehr auf dem Boden. Er flog hoch, die Wellen winkten ihm verlockend zu, sein Widerstand versagte und er flog weiter – er fiel. Dem Tod nachholend taumelte er mit ausgebreiteten Armen aus der Luft. So leicht hatte er sich noch nie gefühlt und er bog sich den Hals zurück, den eisigen Wind und die letzten Strahlen der heiteren Sonne genießend, bevor ihn der Ozean in sich einhüllte…

Seine Verwandten wurden benachrichtigt, als man seine aufgedunsene Leiche fand. Es hatte gut eine halbe Woche gedauert, bis der verwesende Haufen Fleisch nahe der Brücke auftauchte, aber währenddessen war er kaum vermisst; immer der Alleingänger gewesen. »Trotzdem glaube ich es nicht«, bibberte seine jüngere Schwester zwischen Ausbrüchen des Schluchzens, »der war nie depressiv gewesen«. Während der polizeilichen Durchsuchung seiner Wohnung wurde kein Abschiedsbrief gefunden und am Körper waren keine Spuren der Gewalt. »Es kann doch nicht wahr sein! So was hätten wir gar nicht von ihm erwartet«.

Und der Tod, er war auf ihn besonders böse. Er hatte ihm bloß das Warten befohlen.

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