Ein Abend ohne Handy

Erlebte Geschichten

Ich saß an einem Tisch neben einem großen Baum, der seine Zweige dicht über die Hälfte des Bürgersteiges ausgebreitet hatte. Darauf war kein Blatt mehr zu sehen; es war Herbst. Doch am Tag zuvor waren mir ein paar schöne goldene Blätter auf einem der niedrigeren Zweige des Baumes aufgefallen. Ich kam oft hierher, setzte mich morgens genau an denselben Platz und bestellte einen Kaffee. Dies war eigentlich nur der Späti neben meiner Wohnung. Vor dem Görlitzer Bahnhof. Der Laden gehörte einem türkischen Paar, das es fertig gebracht hat, ihn zu einem der populärsten Spätis der Gegend zu machen. Nicht eine einfache Sache, in einer Gegend, die nur aus Spätis und Bars besteht! Von dem Erfolg des Geschäftes konnte ich mich persönlich überzeugen, und zwar am ersten Abend, nachdem ich meine neue Wohnung vor dem Görlitzer Bahnhof bezogen hatte. Denn der Laden war gerade unter meinen großen Fenstern voller Touristen.

Eines Tages bald nach meinem Einzug, als ich für ein paar Getränke bezahlen wollte, verwickelte mich die Besitzerin in eine Konversation. Wir unterhielten uns lange: Da erfuhr ich, dass ihre Tochter gerade als Austauschstudent in Kalifornien gewesen war; dass sie meinen Hauptmieter kannte, aber nicht besonders mochte; dass sie und ihr Mann schon seit Jahren dieses Geschäft betrieben und hatten als erste daran gedacht, Bänke und Tische vor den Laden zu stellen, um nachts die jungen, geldlosen Touristen anzuziehen. Seit dem Gespräch ging ich morgens ab und zu nach unten, und während sie vorm Laden in der frischen Luft frühstückten, schenkten sie mir eine Tasse heißen türkischen Kaffee. Ich setzte mich immer neben den großen Baum, weil mir sein kräftiger dicker Stamm einen hervorragenden Schutz vor Wind und Sonnenschein bot. Da hatte ich gestern die Blätter bemerkt.

Verwelkt waren sie noch nicht. Wahrscheinlich hatte sie der Sturm in der Nacht weggerissen. Ich holte meine Tasse Kaffee näher an mich heran, hielt sie fest unter meinem Kinn. »Mann! Ich habe Glück gehabt«, dachte ich mir. Denn an dem Abend hatte ich erst die Regentropfen auf meinem Gesicht verspürt, als ich schon bei meiner Freundin geklingelt hatte.

Durch meine mit Kaffeedampf bedeckten Brillengläser betrachtete ich die immer noch nassen Straßen.

Gestern Abend feierte meine Freundin das Französische »Chandleur« Fest. Das beste Fest der Welt: der Franzoze macht »Crêpes«; die Gäste fressen. Sie hatte alles seit Wochen vorgeplannt und Einkauflisten unter uns verteilt, und hatte sich versichert, dass alle beim »Chandleur« dabei sein konnten. So befand ich mich um 21 Uhr auf der Straße mit einer Kartonkiste voller Mehl, und allerlei Marmeladen aus LiDL. Der Himmel war dicht bedeckt. Man wusste schon seit zwei Tagen, dass sich ein mächtiges Unwetter der Stadt näherte. Da ich kein Handy hatte, auf dessen GPS ich mich verlassen könnte, hatte ich zu Hause genaustens den Stadtplan auf Google studiert. Meine Freundin wohnte irgendwo am Stadtrand in einer Studentenwohnung.
Um 22 Uhr wanderte ich noch auf der Straße umgeben von der wilden Natur. Der Wind blies immer stärker durch die entblößten Bäume. Ich bog in die letzte Nebenstraße, die ich noch nicht untersucht hatte: Die Studentenwohnung musste in der Nähe sein. Aber, da stand vor mir nur ein Späti als das einzige Gebäude auf der Straße. Ich tratt hinein, und sofort fragte ich den Verkäufer, wo ich war, und ob es in der Nähe ein Studentenwohnung gab. Er konnte weder Deutsch noch Englisch. Aber zu meiner Überraschung begriff er, was ich wollte (ich nehme an, ich war nicht der erste, der auf der Suche dieses Gebäudes verlaufen war). Er war sehr nett; er verschließ seinen Laden, und nahm mich mit duch eine Abkürzung durch das pechschwarze Dickicht hindurch, bis zum Gebäude. Ich klingelte. Der erste Regentropfen rutschte auf meinem Gesicht hinunter. Als ich den Eingang betrat, konnte ich noch einen Moment lang meinen Begleiter duch den Regen laufen sehen.

»Er war echt nett«, dachte ich zu mir und trank meine Tasse Kaffee aus.

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