Traum des Sisyphos

von Günter Kunert

Auf brüchiges Stroh hingesunken, träumte ihm, was er täglich tat: Wie er schwitzte und keuchte und fluchte, indem er den unförmigen Fels langsam aufwärts drückte, Richtung Gipfel.
Während des Tuns wandelte sich der rauhe Marmor unter seinen schmerzenden Händen zu Glätte und endlich zu glatter, weicher Haut, nahm in Lidschlagschnelle Gestalt und Züge an, und unverkennbar die des Sisyphos selber. Der aber, der eben fast erstickte vor Anspannung, der spürte gleich nicht mehr die Mühsal: Tränen der Verzweiflung – als nie geschmeckt; gallige Bitternis, wenn der dumpfe Klotz wieder in die Tiefe entglitten, als ihm ganz Fremdes: Es war hart und unerbittlich nun. Er schaute auf den lebendigen Brocken sisyphosgesichtigen Fleiches vor seinen Füßen, mitleidlos, zornlos. Er erkannte sich nicht.
So also legte er seine steinernen Hände auf die erschauernde Epidermis und stieß, was da vor ihm lag, in den Abgrund: Frei von der Last des geduldigen Emporgebrachtwerdens war jetzt der Stein.

 

Aus: Tagträume (1964)

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