Auf Wolkenhöhe

von Ferdinand Maximilian

»Ich gehe kurz raus. Übernehmen Sie bitte das Steuer«. »Ja, klar«. Andreas, der wortkarge Kopilot dieses Kurzstreckenfluges, ohne dass er vom fernen Horizont wegschielte, hörte die gepanzerte Tür hinter ihm zuknallen, worauf er den Schalter auf ›Lock‹ schob. Draußen rauschte der Wind und die Strahltriebwerke keuschten, aber im Cockpit herrschte Stille. Er hasste den Piloten, der war so’n Dussel. Solange er noch da war, würde Andreas nie die Aufmerksamkeit, die Anerkennung, die er verdient zu haben glaubte, ernten. Sein Blick wurde etwas finster, als er an die ahnungslosen Passagiere dachte. Da hinten, in den aufgezählten, genau gerechneten und nummerierten Reihen, waren etliche zum Stillstand gebrachte Leben. Mit dem Abflug fängt ein großes Treffen an, bei dem man eine Pause von allem nimmt. Das Leben wird aus der Tasche geholt, gescannt und einige Stunden abgegeben, bis es sich wieder auf dem Förderband im Flughafen aufbläst. Ihre Leben gaben diese Kühe der Flugbesatzung ab, die es sorgfältig behandelt und so gut wie ungestört wieder ausgibt. Geschenkt bekam man es nicht; wie geschenkt hält man es doch. Ohne Dankeschön – oder doch ein bedeutungsloses, oberflächliches – steigt das lebendige Gepäck ins Flugzeug und beschwerte sich über das Ganze. Na, mal sehen, was unangenehm bedeutet.

Andreas‘ Finger hatten schon einige Zeit um die Knöpfe des Flight-Management-Systems unbewusst herumgespielt, bevor er die Entscheidung vorsätzlich fallen ließ. Ein unerklärlicher Drang zwang ihn dazu, zuerst die Finger wegzunehmen und alles mit der anderen Hand einzustellen. Man muss Entschlusskraft zeigen. Im Berufsumfeld werden solche Eigenschaften sehr geschätzt. Er drückte auf dem Höhenregler jeden erforderlichen Knopf und leitete den Sinkflug ein. Er fühlte, wie sich die riesige Maschine nach unten verlagerte und an Höhe zu verlieren begann. Er lächelte zu sich selbst und zog seine Krawatte zurecht; jetzt war der große Auftritt. Er spürte keine Angst, nein, im Gegenteil. Eine Welle Erleichterung lief ihm über die Haut und es prickelte am Skalp. Der große Schritt, der große Auftritt.

An die Tür wurde geklopft. »Lassen Sie mich rein!« rief eine wenig geärgerte Stimme aus der Gegensprechanlage. Anderas‘ Atem stockte nicht, es war eine geschlossene Sache. Ein geschlossenes Cockpit. Er sagte nichts und der Bordkommandant klopfte wieder, diesmal mit Gewalt. Geh zum Teufel! Die Stimme drängte durch die Tür und über den Lautsprecher, ein Angsterlebnis in Stereo. Die Stimme klang jetzt wirklich wütend aber auch beängstigt, als sie fragte: »Alles in Orgnung? Lassen Sie mich doch rein!« Andreas schwieg weiterhin und kniff nur die Augen zusammen, den näherrückenden Berggipfel durch das Cockpitfenster betrachtend. Nun, das sah herrlich aus. Er schätzte den Rest des Sturzes – war ja kein Flug mehr – auf bloß drei, höchstens vier Minuten. Hinter ihm rüttelte die Tür, aber er verdrängte das Geräusch aus seinem Hirn. Nur Stille, bitte.

Eine neue, winselige Stimme – vom französischen Akzent gefärbt, erfrischt – brach in seine Stille ein, sie strömte in englischer Sprache aus dem Kopfhörer. Er passte nur kurz darauf auf, nahm aber dann das Gerät von seinem Kopf und legte sie lautlos auf die Konsole. Zwei Minuten.

Ein Bein stieß heftig gegen die Außenseite der Cockpittür, darauf folgten Fäuste. Sie trommelten, baten um die Anerkennung eines vorhin unbedeutenden Kopiloten. Jetzt sehen sie es ein, na, welch einen Fehler begangen. Der Bergkamm war so nah, dass ihn Andreas nicht mehr aus dem Fenster sah. Das könnte nicht für die armen Passagiere, für die bis jetzt ungestörten Opfer eines Feiglings, gesagt werden. Ein panikdurchtränktes Geschrei ging in der Kabine los, hunderte Stimmen erkannten aus den unzähligen Fenstern das narbige Gesicht des Todes im steinernen Fels und verloren auf einmal den Verstand.

›Mistviecher‹, dachte Anderas augenblicklich, darauf schnellte aber noch ein Gefühl überwältigenden Grausens und sein Zorn wich aus. Der Sitzgurt umschlang ihn mit unvorstellbarer Kraft und er rang um Atem. Reue spürte Andreas nicht, dafür war er zu stur; es blieb ein steigender Horror in seinen Gliedern und er fiel in sich zusammen. Es gab kein Zurück. Das Flugzeug schleuderte sich gegen den Berg und sprang noch einmal in die Luft – die endgültige Stille machte sich breit und riss die Unendlichkeit auf. Das versaute, nie realisierbare Leben zerschellte in spitzen Brocken; Andreas‘ Augen standen offen und schluckten die kommende Dunkelheit.

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*